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Anne Prenzler, Kunstverein Hannover
Andrea Neuman

 

Die Arbeiten von Andrea Neuman kreisen um die Frage des modernen Menschenseins. Ausgangspunkt ist die fotografische Recherche an konkreten Orten. Sei es die geschäftige Hektik hastender Passanten in New York oder die beschauliche Stimmung am Ufer des Bodensees. Neben rein fotografischen Serien verwendet die Künstlerin ihre Fotografien als Folie für eine überaus eigenständige Form von Malerei. Mit monochromen zum Teil sehr pastosen Übermalungen subtrahiert Neuman im Atelier alles Unwesentliche der Vorlagen und verwandelt sie in allgemeingültige Metaphern. Präzise wie mit einem Messer löst sie bestimmte Elemente heraus: einzelne Menschen und Menschengruppen, Fragmente von Straße, Architektur oder Natur. Die übrigen Flächen werden von opaken, monochromen Farbschichten bedeckt in Schwarzblau, abgetöntem Weiß, gebrochenem Braunrosa, Rot- Orange und Krapplack.

 

In früheren Arbeiten überwogen oftmals leuchtende Farben wie Magenta, Grün oder Rot. Stets sind es klare, starke Farben, die eine bestimmte emotionale Qualität transportieren, zwischen Dynamik und Stillstand, Nähe und Isolation. Dynamische Halbrundungen und Keile oder rasterartige Netze und Streifen legen sich über die fotografierten Szenen. Die aktuelle Serie „Missing the Right Moment / Folgsamkeit und Gefügigkeit“, 2006, nimmt den Menschen und sein Verhalten im städtischen Raum in den Blick. Ein dynamisches Rot-Orange umschließt die nebeneinander und aneinander vorbei laufenden Menschen und Menschengruppen. Vom sie umgebenden Straßenraum bleiben lediglich einige Linien stehen und zeigen potentielle Bewegungsrichtungen und mögliche Beziehungsmomente. So wird das Laufen zum Symbol für eine ganz bestimmte Lebenshaltung und die Künstlerin wirft damit die Frage auf nach dem Sinn dieser spezifischen Daseinsform. Ebenso grundsätzlich fragen die soziogrammartigen Darstellungen von Individuen und Gruppen nach dem Verhalten des Einzelnen in der Masse.

 

Derartige philosophische und psychologische Überlegungen spielen eine zentrale Rolle in Neumans Werk. Im Mittelpunkt ihrer neuen Serie „Lost Dreams“, 2006, steht der Mensch vor dem Panorama einer weiten See- und Gebirgslandschaft. Entspannte Gestalten lehnen an der Promenade vor einer überwältigenden Aussicht. Man fühlt sich an die Rückenfiguren Caspar David Friedrichs erinnert, die, stets in sich gekehrt, befangen sind in der Betrachtung der Schönheit und Erhabenheit der Natur. Neuman konfrontiert diese romantischen Motive mit einer harten geometrischen Malerei. Als Vorlage dienen ihr die Scan-Codes aus der modernen Warenwelt, genauer Produkt-Codes von Wasserflaschen, mit denen wir eines der existentiellen Lebenselemente des Menschen in eine abstrakte Abfolge von Strichen und Abständen übersetzen.

 

In einer solchen Haltung gegenüber dem Leben wird auch die Entspannung im Angesicht einer überwältigenden Natur zu einem kalkulierten, wohldosierten Gegengewicht zur Geschäftigkeit des Berufslebens. Die Künstlerin setzt hier Kalkül kontra Gefühl, Struktur kontra Natur und kontrastiert einmal mehr die illusionistische Dreidimensionalität des Fotos mit der zweidimensionalen Realität des Zeichens. Aus dieser Kollision widerstrebender Realitätssysteme von Fotografie und Malerei entsteht eine Spannung, aus der sich die unwiderstehliche Faszination ihrer Arbeiten speist. Andrea Neuman geht es stets um existentielle Fragen des Daseins des modernen Menschen.

 

Gleichzeitig verfolgt sie mit der Konfrontation der unterschiedlichen Bildkonzepte letztlich auch die neue alte Frage nach der Wahrheit des Bildes, indem sie das Bild als Spiegel der Wirklichkeit und die Auffassung des Bildes als eigene Form von Wirklichkeit in einen ständigen, vielschichtigen Dialog setzt.